2022: Gewaltschutz aktuell


Projektteam: Dr.in Birgitt Haller (Leitung)
Dr.in Stefanie Mayer
Viktoria Eberhardt, BA Bakk.phil MA
Anna Hasenauer, BA
Dr. Günter Stummvoll
Brigitte Temel, BA BSc MA


Finanzierung: Sicherheitsforschungsprogramm KIRAS des BM für Finanzen
über Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH (FFG)


Fertigstellung: Januar 2023


Das vom Förderungsprogramm für Sicherheitsforschung KIRAS finanzierte Projekt untersuchte drei unterschiedliche für den Gewaltschutz relevante Bereiche: Erstens das Betretungs- und Annäherungsverbot (BV/AV), welches hinsichtlich seiner Schutzfunktion zugunsten von Minderjährigen analysiert wurde; zweitens die Anwendungspraxis von BV/AV gegen weibliche Gefährderinnen und drittens alle im Jahr 2020 begangenen bzw. versuchten Beziehungsmode (definiert als Mord an einer Frau durch den [ehemaligen] Partner). Methodisch wurden Aktenanalysen sowie in den Erhebungen zur Anwendungspraxis von BV/AV auch Expert:inneninterviews mit Polizeibeamt:innen, Opferschutzeinrichtungen und Sozialarbeiter:innen der Kinder- und Jugendhilfe eingesetzt.

Als zentrale Ergebnisse in Bezug auf die Verhängungspraxis von BV/AV können die folgenden festgehalten werden:

Den Polizist:innen wird grundsätzlich seitens aller Befragten hohes Engagement und kompetentes Vorgehen bei Einsätzen wegen Partnergewalt/Gewalt in der Familie (GiP/GiF) zugesprochen. Weitgehend wird auch die Zusammenarbeit der Institutionen als gut beschrieben. Dennoch zeigte die Erhebung auch einige grundlegende Probleme in Bezug auf das polizeiliche Einschreiten auf: BV/AV werden von den einschreitenden Beamt:innen vorrangig als reaktives Instrument, statt als Maßnahme zur Abwehr (zukünftiger) Gefahr verstanden. Weit überwiegend werden sie nur dann ausgesprochen, wenn zuvor bereits eine strafbare Handlung gesetzt wurde – das heißt, es wird de facto keine Gefährdungseinschätzung durchgeführt. Umgekehrt bedeutet das auch, dass, wenn die Schwelle zur strafbaren Handlung aus Sicht der Einschreiter:innen nicht überschritten wurde, keine Maßnahmen gesetzt werden – etwa wenn Gefährder:innen „nur“ vor dem Haus der gefährdeten Person randalieren. Nicht zuletzt für Kinder schaffen solche wiederholten, aber konsequenzlosen Einsätze eine unerträgliche Situation. Zudem erfolgt in solchen Fällen im Regelfall keine Information an die Gewaltschutzeinrichtungen und die Kinder- und Jugendhilfe. Eine Ausweitung der Informationspflichten auch auf Fälle, die seitens der Einschreiter:innen ohne BV/AV gelöst wurden (ehemals „Streitschlichtungen“), wäre daher ein sehr wichtiger Schritt.

Spezifische Folgen hat diese Problematik beim Schutz von Minderjährigen: Da beinahe durchgängig nur die unmittelbare Betroffenheit von physischer Gewalt und/oder gefährlichen Drohungen als ausreichende Grundlage für ein BV/AV verstanden wird, werden in Fällen miterlebter Gewalt kaum Schutzmaßnahmen ergriffen – obwohl miterlebte Gewalt rechtlich als Kindeswohlgefährdung anerkannt ist. Das Fehlen eigener BV/AV zugunsten von Minderjährigen resultiert in der Folge u.a. im Fehlen jedes Schutzes außerhalb der Wohnung, in aufrechten Kontaktrechten des:der Gefährder:in gegenüber den Kindern sowie in mangelnden Ressourcen für die Betreuung der Minderjährigen bei den Gewaltschutzeinrichtungen.

Umgekehrt führt das Fehlen einer systematischen Gefährdungseinschätzung dazu, dass sich Be-amt:innen verpflichtet fühlen, BV/AV zu verhängen, auch wenn akut keine Gefährdungssituation mehr besteht. Seitens der Beamt:innen wird befürchtet, dass ihnen sonst Fahrlässigkeit oder gar ein Verstoß gegen die Dienstvorschriften vorgeworfen werden könnte – eine Wahrnehmung, der andere Interviewte deutlich widersprechen, da derartige Sanktionen nicht vorkämen. Dennoch trägt diese Praxis zum von vielen der interviewten Polizist:innen formulierten Eindruck bei, dass insgesamt zu viele BV/AV verhängt würden.

Nicht zuletzt führt die Praxis, BV/AV lediglich auf Basis des Eindrucks der vorgefundenen Situation und nach dem (von vielen Beamt:innen positiv hervorgehobenen) „Bauchgefühl“ zu verhängen, zu spezifischen Problemen für Frauen in Gewaltbeziehungen, die sich wehren und dann als Gefährderinnen weggewiesen werden. Überraschend deutlich wurde auch der geschlechtsspezifische Bias der Polizeibeamt:innen in der vergleichenden Auswertung der Adjektive zur Beschreibung von männlichen und weiblichen Gefährder:innen: Nicht rollenkonformes Verhalten von Frauen schlug sich in gehäuft negativen Beschreibungen und insbesondere der Wahrnehmung als „aggressiv“ nieder.

Eine systematische Gefährdungseinschätzung könnte diese Probleme zumindest entschärfen – eine solche wird allerdings von den befragten Beamt:innen abgelehnt, wobei neben praktischen Schwierigkeiten auch die Organisationskultur der Institution Polizei und insbesondere deren Umgang mit Wissen wesentliche Hürden darstellen. Die Interviews mit Polizist:innen, aber auch mit Mitarbeiter:innen der Kinder- und Jugendhilfe zeigten zudem, dass das Missverstehen von Beziehungsgewalt als eskalierender „Streit“ statt als zugespitzter Ausdruck von (männlicher) Dominanz immer noch weit verbreitet ist.

In Bezug auf die Analyse von Beziehungsmorden und –mordversuchen im Jahr 2020 lässt sich in aller Kürze festhalten, dass 19 Frauen Opfer von 18 Tätern wurden – ein Mann tötete nicht nur seine Ehefrau, sondern auch seine Geliebte. Im Altersvergleich stellten Frauen über 70 mit mehr als einem Viertel die größte Opfergruppe, bei den Tätern handelte es sich in diesen Fällen um die annähernd gleichaltrigen Ehemänner. 16 Frauen lebten in aufrechter Partnerschaft oder Ehe mit dem Täter, in drei Fällen handelte es sich um ehemalige Partner – werden allerdings Trennungs-absichten mitberücksichtigt, taucht dieser Faktor in ca. der Hälft der Fälle auf. Auffällig war, dass eine Drogen- und/oder Alkoholsucht nur bei zwei der Täter eine (aktenkundige) Rolle spielte, jedoch bei ca. 40 Prozent eine psychische Krankheit diagnostiziert (und in einem weiteren Fall vermutet) wurde. Psychische Krankheiten waren damit auch der häufigste Hochrisikofaktor, gefolgt von früherer Gewaltanwendung – eine dementsprechende dokumentierte Gewaltgeschichte gegenüber dem späteren Opfer lag bei fünf Tätern vor, bei einem sechsten mit Bezug auf eine andere Person. Über die Verhängung eines BV/AV hinaus wurden in keinem Fall Maßnahmen ergriffen – weder fanden sich in den Akten Hinweise darauf, dass Opfer eine einstweilige Verfügung angestrebt hatten, noch hatten sie (mit einer bereits 18 Jahre zurückliegenden Ausnahme) Beratung und Unterstützung durch Gewaltschutzeinrichtungen in Anspruch genommen.

16 der 18 Täter waren österreichische Staatsbürger – davon drei mit Migrationshintergrund (bosnisch, türkisch, rumänisch) – und nur zwei Nicht-Österreicher (deutsch, afghanisch). Acht Täter begingen im Zuge der Strafverfolgung Selbstmord, was die Einstellung der Verfahren nach sich zog. In den anderen Fällen wurde sechsmal ein Schuldspruch wegen Mordes und einmal wegen Mordversuchs gefällt, drei weitere Angeklagte wurden ohne Ausspruch einer Strafe in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher:innen eingewiesen.