2021: Wohnungslose Frauen und Gewalt


Projektteam: Dr.in Birgitt Haller (Leitung)
Viktoria Eberhardt, BA Bakk.phil MA
Brigitte Temel, BA BSc MA


Finanzierung: Frauenservice der Stadt Wien


Fertigstellung: Mai 2021


Studie zum Download


Ausgangspunkt des Forschungsprojekts ist eine vielschichtige Verstrickung von Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit mit Gewalterfahrungen, wobei persönliche Erzählungen von Frauen im Fokus der Analyse stehen. Für die auf Wien bezogene qualitative Studie erfolgten 27 problemzentrierte Interviews mit Praktiker:innen aus der Wohnungslosenhilfe und anderen Expert:innen sowie mit 29 Frauen, die selbst von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit betroffen sind oder waren.

In den letzten zehn Jahren wurden Besserungen im Hinblick auf geschlechtersensible Versorgung vorgenommen. Ein großer Teil der bestehenden gemischtgeschlechtlichen Einrichtungen schaffte neue frauenspezifische Angebote. Zusätzlich wurden neue Einrichtungen ausschließlich für Frauen eröffnet. Insgesamt konnten dennoch zahlreiche Leerstellen und Problemfelder in bestehenden Angeboten der Wiener Wohnungslosenhilfe bei der Versorgung von Frauen festgestellt werden. Der Großteil der Angebote richtet sich nach wie vor in erster Linie an Männer; Frauen werden in der Wohnungslosigkeit tendenziell in eine Unsichtbarkeit gedrängt.

Eine besondere Herausforderung in der sozialarbeiterischen Betreuung der weiblichen Zielgruppe besteht darin, dass ein Großteil der Klientinnen mehrfach von unterschiedlichen Gewaltformen betroffen war. Oftmals beginnen diese Erfahrungen bereits in der frühen Kindheit, schreiben sich in Beziehungsgewalt fort und nehmen in der Wohnungslosigkeit wieder andere Formen an. Dementsprechend spielen Traumata, psychische Belastungen bis hin zu schwerwiegenden psychischen Erkrankungen/Diagnosen in der Wohnversorgung von gewaltbetroffenen Frauen eine wichtige Rolle. Generell ist es schwerer, Frauen an das System der Wohnungslosenhilfe anzubinden; oftmals verbleiben sie länger in der verdeckten Wohnungslosigkeit als Männer.

Anhand der problemzentrierten Interviews wurde Handlungsbedarf auf mehreren Ebenen sichtbar. Innerhalb der Wohnungslosenhilfe besteht Verbesserungspotential sowohl bei Einrichtungen als auch in der Vermittlung, zudem sind aber auch andere sozialstaatliche Strukturen optimierungsbedürftig. So etwa das Gesundheitssystem, das nur wenige Therapieplätze auf Kasse anbietet, wodurch der Zugang zur psychischen Gesundheitsversorgung von ökonomisch schwächer gestellten Bevölkerungsgruppen stark eingeschränkt wird. Ein weiteres Problem, das in den Biografien mehrerer Interviewpartner:innen sichtbar wurde, besteht darin, dass Frauen mitunter jahrelang intensive und unbezahlte Pflegearbeiten von Angehörigen leisten. Die dadurch entstandenen Erwerbsarbeitspausen beeinträchtigen ihre Anschlussfähigkeit an den Arbeitsmarkt. Gesellschaftliche Stigmatisierung von Wohnungslosigkeit hat zur Folge, dass manche Hilfsangebote aufgrund von Scham bzw. Stolz nicht aufgesucht oder angenommen werden.

Zusätzlich zu den 56 problemzentrierten Interviews wurden zehn biografisch-narrative Interviews mit aktuell oder ehemalig obdach-/wohnungslosen Frauen geführt, die sich über mehrere Termine erstreckten und somit wesentlich zeitintensiver waren. Auf der Grundlage dieses intimen Interviewmaterials erstellte das Forscherinnen-Team biografische Skizzen; somit wurde jede der Erzählungen in einem literarisch ansprechenden Format aufgearbeitet, um den lebendigen Charakter der Interviews für Lesende aufrechterhalten.

Das System der Wiener Wohnungslosenhilfe befindet sich derzeit in einem Umstrukturierungsprozess, von einem starren Stufensystem (Notschlafstellen – Übergangswohnen – Betreutes Wohnen) hin zu einem holistischeren Konzept, in dem der Wohnversorgung höchste Priorität zukommt, im Sinne des Grundprinzips von Housing First. Insbesondere für Frauen mit Gewalterfahrungen gehen damit erhebliche Verbesserungen in der Versorgung einher, weil die neueren Modelle (Chancenhäuser, Housing First) besser in der Lage sind, Schutzräume und Rückzugsorte zu bieten. Eine spezifische Erweiterung besagter Angebote, angepasst an Bedürfnisse von Frauen mit Gewalterfahrungen, wäre für den österreichischen Kontext wünschenswert. In Großbritannien wurde bereits ein spezielles Toolkit für die Wohnversorgung von gewaltbetroffenen Frauen nach dem Prinzip von Housing First erarbeitet, das für Wien Vorbild werden könnte.

Mit Hinblick darauf, dass die Langzeitfolgen von COVID-19 insbesondere sozioökonomisch schwächer gestellte Bevölkerungsgruppen betreffen werden, ist vorhersehbar, dass das Hilfssystem für den Bereich der Wohnungslosigkeit in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen gestellt wird. Expert:innen warnen vor Einkommensverlusten und -einbußen, sowie einer bevorstehenden Delogierungswelle, für die die Wohnungslosenhilfe gerüstet werden muss. In diesem Sinn wurde das Forschungsprojekt zu einem günstigen Zeitpunkt abgeschlossen, der es ermöglicht, ermitteltes Verbesserungspotenzial nicht nur beim Ausbau von bestehendem Angebot, sondern auch bei der Schaffung neuer Angebote zu berücksichtigen.