2003: Sexuelle Gewalt gegen Verfolgte des Nationalsozialismus


Projektleitung: a.o. Univ.-Prof. Dr.in Erika Thurner


Durchführung: Mag.a Helga Amesberger
Mag.a Katrin Auer
Mag.a Brigitte Halbmayr


Finanzierung: Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank, Projekt Nr. 8746


Fertigstellung: Juni 2003


Im Mai 2000 wurde die Studie “Lebenserinnerungen. Eine Dokumentation über die inhaftierten Österreicherinnen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück” abgeschlossen (1). Basierend auf den Studienergebnissen und den dort erhobenen Quellen (42 biographisch-narrative Interviews) sowie zusätzlichen problemzentrierten Interviews wurden in dieser Folgestudie die Formen, Funktionen und Folgen sexualisierter Gewalt gegen Frauen während der NS-Verfolgung und KZ-Haft untersucht. Ausgehend von der Fragestellung, von welchen direkten und strukturellen Formen sexualisierter Gewalt Frauen im Zuge ihrer Verfolgung und Inhaftierung in Konzentrationslagern betroffen und bedroht waren, wurde das umfangreiche Oral History-Material der biographisch-narrativen und problemzentrierten Interviews mit österreichischen Überlebenden des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück ausgewertet.

Als theoretische Fragestellung versuchten wir die Klärung, Abgrenzung und Definition des Begriffs sexualisierte Gewalt. In einer theoretischen und ideologiekritischen Auseinandersetzung stellten wir die Frage, inwiefern im nationalsozialistischen Kontext die Wechselwirkung zwischen nationalsozialistischen Ideologieelementen und Repressionen zu qualitativ spezifischen Formen von sexualisierter Gewalt in der Verfolgung führte. Zusätzlich den Faktor Geschlecht in diesem Zusammenhang miteinbeziehend, folgt daraus die These, dass Art und Verlauf der sexualisierten Gewalttat Resultat der Wechselwirkung zwischen NS-Ideologie auf der einen Seite und dem biologischen Geschlecht des Opfers auf der anderen Seite war. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass sich solche Verknüpfungen in sexualisiert-frauenfeindlichen, -rassistischen und -antisemitischen, -eugenischen und -heterosexistischen Motiven und Funktionen manifestierten. Ergebnis der Differenzierung der sexualisierten Gewaltformen nach ihren ideologischen Motivationsstrukturen ist die Erkenntnis, dass im NS-Kontext sexualisierte Gewalt gegen Frauen nicht ausschließlich als Ausdruck von Frauenfeindlichkeit begriffen werden kann. Wir untersuchten weiters, welche Formen der sexualisierten Gewalt – erlitten während der Zeit der Verfolgung – in den Lebensgeschichten der befragten Überlebenden vorkommen.

Insgesamt umfasst der Forschungsbericht einen historischen Überblick und die Darstellung der ideologischen, strukturellen und politischen Kontexte der nationalsozialistischen Genderkonzepte, Sexual- und Bevölkerungspolitik sowie der Binnenstruktur von Konzentrationslagern. Dem folgt die Diskussion und Definition des Begriffes sexualisierte Gewalt, eine theoretische Auseinandersetzung und ideologiekritische Kategorisierung der Formen sexualisierter Gewalt sowie die Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur zum Thema Trauma und Coping Strategien. Weiters beinhaltet die Studie die Darstellung und Analyse selbst- und miterlebter sexualisierter Gewalt gegen Frauen im Zuge von Gestapo-Verhören und der Aufnahmeprozedur in Konzentrationslagern, die symbolische Bedeutung von Haaren in den Lebensgeschichten der Frauen und die daraus resultierenden Implikationen des Haarescherens bei der Ankunft im KZ, das frauenspezifische Thema Menstruation während der KZ-Haft sowie einen Exkurs zu Intimität und Sexualität unter weiblichen KZ-Häftlingen.

Daran schließt die Untersuchung von sexueller Ausbeutung von Frauen in NS-Konzentrationslagern an. Wir gingen zum einen der Frage nach, wie die historischen Bedingungen und Kontexte zu Prostitution im Nationalsozialismus sowie zu Zwangsprostitution und sexueller Ausbeutung in nationalsozialistischen Konzentrationslagern ausgesehen haben, und wie zum anderen Frauen, die von der SS sexuell ausgebeutet wurden, dies in ihren Lebensgeschichten darstellen, das heißt in welcher Form und in welchem Ausmaß es ihnen möglich ist, darüber zu erzählen. Die Darstellung der Lebensgeschichten und die Interpretation der Fallgeschichten von zwei Frauen, die von der SS sexuell ausgebeutet wurden, bilden daher den Schwerpunkt der Studie. Anhand dieser Fallgeschichten haben wir eine umfassende Analyse der Umstände, Zwänge, Motive, Handlungsoptionen, Erlebnisse und des Umgangs der beiden Frauen mit dem Aspekt sexueller Ausbeutung und Zwangssexarbeit in ihrer Lebensgeschichte erreicht. Die beiden Frauen wurden unserer Erkenntnis nach von der SS regelmäßig und kontinuierlich sexuell ausgebeutet. Trotz dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich beide Frauen sowohl in der heutigen Darstellung ihrer Lebensgeschichten als auch in ihrem Umgang mit dieser Vergangenheit in vielen Aspekten.

Weiters wurde das Thema Schwangerschaft und Mutterschaft während der Verfolgung in Form einer historischen Darstellung der strukturellen Rahmenbedingungen für Gebärende im KZ Ravensbrück, der Fallgeschichte von Klara C., die während ihrer Haftzeit in Theresienstadt zwei Mal schwanger wurde, der Auseinandersetzung mit dem Thema Kinder als Repressalie oder (Über)Lebenskraft sowie den Auswirkungen von nichtlebbarer Mutterschaft während der Verfolgung auf das Leben der Frauen nach 1945 behandelt. Weibliche Gebärfähigkeit wurde von den Nationalsozialisten oftmals gegen die Frauen eingesetzt. Kinder wurden als Repressalie missbraucht, schwanger zu sein oder als Mutter mit Kleinkindern in Vernichtungslagern anzukommen, bedeutete für die Mütter und Kinder den sofortigen Tod. Unter KZ-Haftbedingungen schwanger zu sein und zu entbinden, hatte zusätzliche Traumatisierungen zur Folge. Sowohl frauenfeindliche als auch antisemitische und rassistische Ideologeme bestimmten hier die Anwendung sexualisierter Gewalt.

Abschließend gingen wir der Frage nach der Bedeutung und Form von Ehe und Partnerschaft im Leben der überlebenden Frauen, den Motiven zu heiraten oder nicht zu heiraten sowie dem generativen Verhalten der Frauen nach. Im Vergleich zu der in der Literatur bekannten These, dass rassistisch und antisemitisch Verfolgte in der Familiengründung und einer relativ großen Kinderzahl ein Symbol des Sieges über die VernichterInnen sahen, ergab sich innerhalb unseres Samples das Ergebnis, dass neben dem Ausmaß der Traumatisierung bei rassistisch und antisemitisch Verfolgten auch die soziale Herkunft (bäuerliches Milieu) eine wesentliche Rolle in Bezug auf die Kinderanzahl spielt.

Im April 2001 erschien die zweibändige Publikation: Amesberger, Helga/ Halbmayr, Brigitte: “Vom Leben und Überleben – Wege nach Ravensbrück. Das Frauenkonzentrationslager in der Erinnerung.” Band 1: Dokumentation und Analyse, Band 2: Lebensgeschichten. Wien: Verlag Promedia 2001