Projektleitung: | Dr.in Birgitt Haller | |
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Durchführung: | Dr.in Birgitt Haller Justina Kaiser, MA |
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Finanzierung: | Bundeskanzleramt, Sektion Frauen und Gleichstellung | |
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Fertigstellung: | März 2018 | |
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Studie zum Download |
Ein Motiv für die Durchführung dieser Studie lag darin, dass in Österreich zuvor nur eine einzige detaillierte Analyse von Strafverfahren wegen Vergewaltigung und geschlechtlicher Nötigung durchgeführt worden war, die 1995 publiziert wurde. Im Zuge einer qualitativen Aktenanalyse untersuchten wir insgesamt fünfzig Gerichtsakten aus dem Jahr 2016 in den OLG-Sprengeln Wien und Innsbruck, um die beiden Pole des immer wieder konstatierten Ost-West-Gefälles berücksichtigen zu können. Gewaltbetroffen waren in erster Linie Mädchen und Frauen (56), in vier Verfahren gab es ausschließlich männliche Opfer sowie in zwei ein männliches und ein weibliches Opfer.
Verglichen mit der Situation zu Beginn der 1990er Jahre zeigen sich einige Verbesserungen. Das betrifft in erster Linie den schonenden Umgang mit OpferzeugInnen bei Gericht, insbesondere was die Befragungspraxis angeht, und den Rückgang von Klischees, die zu teilweise nicht nachvollziehbaren Freisprüchen und zu victim blaming führen und die vor einem Vierteljahrhundert bei Vernehmungen und in Urteilsausfertigungen häufiger zu finden waren. Darüber hinaus hat sich eine strengere Strafenpraxis etabliert: 1990 wurden 61 Prozent der Täter zu einer (bedingten oder unbedingten) Freiheitsstrafe von maximal 18 Monaten verurteilt, 2016 dagegen hat sich dieser Wert fast halbiert (33 Prozent) und jeder fünfte Angeklagte erhielt eine Haftstrafe von 19 bis 24 bzw. von mehr als sechzig Monaten. Die Freispruchsquote bezogen auf die angeklagten Personen lag zu beiden Zeitpunkten bei einem Drittel.
Hier sollen kursorisch einzelne zentrale Ergebnisse herausgestrichen werden. Als erstes fällt der hohe Anteil von Ausländern unter den Angeklagten auf. Mehr als die Hälfte stammt aus Drittstaaten, vor allem aus der Türkei und aus Afghanistan. Zehn Angeklagte befanden sich im Asylverfahren, offenkundig spiegelt sich hier die starke Zuwanderung durch Flüchtlinge im Jahr davor. Unter den weiblichen Opfern sind mehr als zwei Drittel Österreicherinnen, jeweils rund 17 Prozent sind EU-Bürgerinnen bzw. Drittstaatsangehörige.
Bei den weiblichen Opfern machten Bekannte und Fremde jeweils ein Drittel der Angeklagten aus, Partner dagegen nur neun Prozent und am Tattag kennengelernte Männer etwas mehr, nämlich rund elf Prozent. Verwandte hatten einen Anteil von sieben Prozent. Bei den viktimisierten Burschen und Männern zeigt sich eine völlig andere Verteilung: 43 Prozent der Gewalttaten erfolgten durch Verwandte und 29 Prozent durch Bekannte, dagegen spielen am Tattag Kennengelernte und Fremde eine geringere Rolle.
Zwei bemerkenswerte Ergebnisse zeigten sich bei den weiblichen Opfern. Das ist zum einen der hohe Anteil derer, die unmittelbar nach der Gewalttat Anzeige erstatteten, nämlich fast vierzig Prozent. Ebenso viele zeigten die Tat erst später an und bei den übrigen wurden Dritte wie z.B. ein Krankenhaus aktiv. Mädchen/ Frauen, die später anzeigten (vereinzelt erst nach Jahren), benötigten teilweise mehr Zeit, um diesen Entschluss zu fassen (vor allem junge), andere teilten diese Information der Polizei “versehentlich” in einem anderen Zusammenhang mit. Die zweite Auffälligkeit liegt beim hohen Anteil von fast neunzig Prozent der Opfer, die gegen den Täter aussagten, überwiegend in einer kontradiktorischen Vernehmung, aber auch während der Hauptverhandlung.
Die große negative Überraschung ist die geringe Inanspruchnahme von Prozessbegleitung: Nur jedes zweite weibliche Opfer war begleitet, und Lücken bestanden vor allem bei jungen. Allerdings blieben nicht alle unbegleiteten Opfer ohne Unterstützung, manche waren anwaltlich vertreten und schlossen sich als Privatbeteiligte dem Verfahren an. Die untersuchten erstinstanzlich abgeschlossenen Strafverfahren endeten für zwei Drittel der Angeklagten (33) mit einer Verurteilung, ein Drittel wurde freigesprochen (17), und zwei Gewalttäter wurden in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen (§ 21 Abs 1 StGB). Die Begründung der Freisprüche entzieht sich aufgrund der Praxis der gekürzten Protokoll- und Urteilsvermerke mehrheitlich einer Analyse; waren die Argumente ausgeführt, handelte es sich etwa um widersprüchliche Aussagen einer Opferzeugin oder die Entlastung des Angeklagten durch ZeugInnen. In vier Verfahren thematisierte das Urteil die Möglichkeit einer Falschbezichtigung durch die Opferzeugin, Verleumdungsanzeigen wurden aber nicht erstattet.
In fast allen Verfahren wurden bei der Strafbemessung sowohl Milderungs- als auch Erschwerungsgründe berücksichtigt, von denen einzelne bemerkenswert sind. So wurde einem Täter “die einfache Persönlichkeitsstruktur von Täter und Opfer” zugutegehalten, was vor allem mit Blick auf die dem Opfer zugeschriebene Eigenschaft nicht nachvollziehbar ist; ebenso wurde die Tatsache, dass sich ein Vergewaltigungsopfer vor dem Verurteilten und anderen Gästen ausgezogen hatte, als Milderungsgrund erachtet, weil es sich dabei aus Sicht des Gerichts um eine “Provokation” gehandelt habe.
Wir versuchten in unserer Studie mit statistischen Verfahren die Auswirkungen verschiedener Merkmale des Täters, des Opfers oder der Tat auf das Urteil zu analysieren. Dabei gab es einige signifikante Ergebnisse. So wurden etwa 88 Prozent der vorbestraften Täter verurteilt bzw. in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Der Opfer-Täter-Beziehung kommt ebenfalls eine wichtige Rolle zu. Unterscheidet man grob zwischen “bekannt” und “fremd”, war bei gut einem Viertel der Freisprüche, aber bei jeder zweiten Verurteilung der Angeklagte dem Opfer fremd. Das lässt sich dahingehend interpretieren, dass das Klischeebild des Vergewaltigers als “Fremder im nächtlichen Park” immer noch lebendig ist und Beziehungspartnern sexuelle Gewalt weniger zugetraut oder zugeschrieben wird, obwohl Prävalenzstudien dem klar widersprechen. Prozessbegleitung führt offenkundig nicht dazu, dass Angeklagte eher verurteilt werden, weil das Gewaltopfer emotional gut gestützt und juristisch kompetent vertreten wird – diese Erwartung richtete sich an die Prozessbegleitung bei der Etablierung des Angebots. Die analysierten Freisprüche erfolgten zu zwei Drittel in Strafverfahren, in denen die Opferzeugin begleitet war.
Wenig überraschend ist dagegen der Zusammenhang zwischen der Zahl der Beweismittel, die in einem Strafverfahren zur Verfügung standen, und der Gerichtsentscheidung: Bei Freisprüchen waren es durchschnittlich 1,6 Beweismittel, bei den Verurteilungen bzw. Einweisungen 2,6. Dabei führte die Kombination von ärztlichem Attest und fotografischer Verletzungsdokumentation in jedem Fall (sechsmal) zu einer Verurteilung.
Ein letzter Punkt: Vergleicht man ihre Größenanteile in der Stichprobe, sind Österreicher, EU/CH-Bürger und Drittstaatsangehöriger annähernd proportional vertreten. Dieses Bild verschiebt sich bei einem Vergleich der Verurteilungsquoten: Unter diesem Blickwinkel wurden nämlich nur 44 Prozent der Österreicher ohne Migrationshintergrund zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt, aber 54 Prozent aller Österreicher inklusive Migranten und schließlich sogar 82 Prozent der Asylwerber und illegal in Österreich aufhältigen Angeklagten. Gerade der Unterschied zwischen autochthonen und “Neo”-Österreichern überrascht.